Ein Sankalpa für mich
Veröffentlicht von Hannah Meyer | 28. Januar 2023
Passend zum dritten Ausbildungswochenende wurde ich krank. Ich hatte zwei sehr aufwühlende und kräftezehrende Wochen hinter mir und anstatt sich auf das Wochenende zu freuen, machte mein Körper am Freitagabend dicht. Ich war schlapp und müde und bei dem Gedanken ins Yogastudio zu fahren, wurde mir übel. Zum Glück hielt dieser Erschöpfungszustand nur einen Abend an, sodass ich dann die nächsten zwei Tage an der Ausbildung teilnehmen konnte, wenn auch mit etwas wackligen Beinen.
Die Rolle der Yogalehrerin
Am Freitag aber war ich krank und nahm per Zoom an der Klasse teil. Tina hatte spontan für mich und eine Mitschülerin eine Konferenz eingerichtet. Ihre Stimme drang durch den Laptop in mein Zimmer, auf meine Matte zuhause. Meine Zoommitstreiterin folgte Tinas Anleitungen und nahm so genau wie alle anderen im Studio an der Praxis teil. Ich lag stattdessen auf meiner Matte, versuchte den anderen zuzusehen und dachte nach. Das Ausbildungswochenende war der „Rolle der Lehrerin“ gewidmet und Tina lud uns an diesem Freitagabend ein, in unserer Praxis unserem „Sankalpa“ als Yogalehrerin zu begegnen. „Sankalpa“ ist Sanskrit und bedeutet so viel wie Intention oder übergeordnete Aufgabe. Warum möchte ich Yogalehrerin werden? Was ist meine Intention dahinter, mein Antrieb? Was möchte ich meinen Schüler:innen mitgeben? Und obwohl ich an diesem Abend nicht an der Praxis teilgenommen habe, habe ich auf der Matte mein Sankalpa entdeckt.
Warum praktiziere ich eigentlich Yoga?
Ich habe das Yoga Individual Studio während einer sehr stressigen Zeit in meinem Leben gefunden. Ich war in Aachen bei meiner Familie. Mein Vater war pflegebedürftig und als ihn im Sommer Corona erwischte, verschlechterte sich seine Situation merklich. Meine Mutter und ich hätten viel mehr Unterstützung gebraucht, die wir aber nicht ohne weiteres bekamen. So war jeder Tag eine Herausforderung und brachte neue Probleme mit sich, denen wir uns stellen mussten. Aus einem Impuls heraus googelte ich nach Yogastudios in Aachen und buchte eine ersten Probestunde.
Danach fuhr ich fast jeden Tag mit dem Fahrrad ins Studio und besuchte einen Kurs. Ich fuhr mit surrenden Gedanken in die Stadt und kam mit leerem Kopf nach Hause. Schon nach zwei Wochen hatte ich den Wunsch Yogalehrerin zu werden. Die Praxis hat mich in der Zeit gesund gehalten – davon bin ich überzeugt. Und rückblickend sehe ich, dass Yoga mich immer in besonders stressigen Zeiten meines Lebens begleitet hat. Ich habe Yoga immer phasenweise praktiziert. Aber nicht dann, wenn ich gerade viel Zeit hatte, sondern immer dann, wenn meine Wochen dicht und voll waren. Beispielsweise habe ich, als ich mich auf mein Abitur vorbereitet habe, jeden Tag Yoga gemacht. Einfach, weil ich gespürt habe, wie gut mir das tut, ohne so genau über das „Warum?“ nachzudenken. Aber an diesem Freitagabend stellte ich mir genau diese „Warum?“-Frage. Was ist es eigentlich, was Yoga so erholsam für mich macht?
Bewegte Gegenwärtigkeit
Ich glaube, mein Alltag setzt sich im Großen und Ganzen aus zwei Puzzleteilen zusammen. Entweder ich bewege mich in die Zukunft oder ich verharre in der Gegenwart. Entweder ich arbeite auf ein bestimmtes Ziel hin, auf ein Ereignis in der Zukunft, gehe die nötigen Schritte und strenge mich an. Oder ich ruhe mich aus und mache Pause. Dann bin ich im gegenwärtigen Moment, der ja in der modernen Spiritualität so gepriesen wird. Aber bevor ich angefangen habe, Yoga zu praktizieren, habe ich in solchen Momenten einfach nichts gemacht. „Rumgehangen“, ist wohl das richtige Wort dafür. Das ist nicht per se etwas Schlechtes, es ist sogar oft genug notwendig. Genauso, wie es gut ist auf seine Ziele hinzuarbeiten, was ich ja auch wieder in der Ausbildung mache.
Aber Yoga hat mir noch eine weitere Bewegungsrichtung eröffnet, die mir bis dahin einfach gefehlt hat: Ein Hineingehen in die Gegenwart. Das ist ein komplexer Gedanke, aber er ist wichtig für mich, um die Qualität meiner Praxis zu begreifen. Eine gute Yogastunde gibt mir die Möglichkeit mich tiefer in den gegenwärtigen Moment hineinzubegeben. Es ist möglich, sich zu bewegen, ohne dass diese Bewegung auf die Zukunft hin ausgerichtet sein muss. Und besonders in stressigen Phasen bildet dieses Gefühl einen deutlichen Kontrast zu meinem restlichen Alltag. Im letzten Sommer erlebte ich nach meinen Yogastunden Momente purer Freude. Ich fuhr mit dem Fahrrad in den sonnigen Nachmittag hinein, nahm den längeren Weg durch den Wald und spürte meiner Praxis nach. Es waren Momente voller bewegter Gegenwärtigkeit für mich.
Mein Sankalpa – Warum ich unterrichten möchte
Und da ich nun mal Lehrerin bin, möchte ich nach dieser Erfahrung natürlich eine Ausbildung machen. Ich trage diese „Lehrerin-Veranlagung“ schon von klein auf in mir. Alles, was ich lerne, möchte ich anderen beibringen. Alles, was mir hilft, möchte ich in die Welt tragen. Das ist schon immer so gewesen. Und deswegen war und ist es mein Wunsch dieses „Yogagefühl“, dieses Hineingehen in die Gegenwart, unterrichten zu können. In Yogaklassen, aber auch für meine späteren Schüler:innen in der Grundschule. Für meine Freundinnen, für meine gestressten Mit-Studis, für meine Nachbarin, die ständig krank ist und für meine eigene Familie. Ich möchte lernen, anderen diese Erfahrung zu ermöglichen. Ich träume davon, Menschen an dieses Gefühl heranzuführen, besonders auch die, die auf den ersten Blick nicht in das Bild eines Yogis passen. Ich glaube, jede Yogastunde ist eine kleine Zeremonie der Gegenwart.
Ehrlich gesagt, zweifle ich noch manchmal daran, ob ich im Mai wirklich in der Lage sein werde, meinem Sankalpa gemäß zu unterrichten. Sechs Monate sind keine lange Zeit und ich habe noch so viel zu lernen. Aber ich möchte unterrichten und ich habe mir an diesem Freitag fest vorgenommen, meine Ausbildung auf mein Sankalpa hin auszurichten. Ich habe mir vorgenommen, sie so intensiv wie möglich zu nutzen und zu beobachten, wohin sie mich tragen wird.
Teil 1 meines Tagebuches aus der Yogalehrer:innen Ausbildung findest Du hier auf dem Blog.